„The sky was the color of a television tuned to a dead channel.“
William Gibsons ikonischer erster Satz in seinem Roman Neuromancer gilt vielen Menschen, mir auch, als bester erster Satz der Welt.
Für mich und viele andere, fängt dieses Bild perfekt die Stimmung der folgenden Geschichten ein. Das ist Cyberpunk, wie man ihn besser wohl nicht schreiben kann. Eine nahe Zukunft, unsere Gesellschaft logisch weiter gedacht und in einem einzigen Satz kondensiert.
Es gibt aber auch Menschen, die den Satz nicht gelungen, die Metapher schief finden:
„A television tuned to a dead channel shows static, snow — a random and shifting collection of little black and white rectangles accompanied by audio white noise.
No earthly sky has ever presented such an image.“
Das mag wohl stimmen, genau um diese Qualität geht es Gibson, glaube ich. Cyberpunk ist over the top. Wie das Bild. Unser Himmel sieht nicht so aus. Unsere Städte sehen nicht aus wie die in Neuromancer. Aber wir können extrapolieren. Entsprechend lesen sich auch die Kommentare, die man ausnahmsweise mal größtenteils empfehlen kann. Das Internet ist sich ziemlich einig.
Himmel und Stadt werden so aussehen, wenn die Entwicklung, die Gibson vorherdenkt, weit genug voran schreitet. Genau deshalb leben wir heute in Cyberpunk-Zeiten, die Dinge haben sich jahrzehntelang in diese Richtung entwickelt. Ich hätte nie gedacht, dass Cyber- mal eine Renaissance hätte.
Gibsons erster Satz ist noch aus einem anderen Grund bemerkenswert: Er ist zeitlos und das mag paradox erscheinen: Durch „television“ ist er stark an eine bestimmte Zeit gebunden. Zugleich ist er genau das nicht, indem Gibson zielsicher eine zeitgenössische Technologie gewählt hat, die wahrscheinlich zu den innovationsresistentesten überhaupt gehört: Bildschirme.
Schwer vorstellbar, dass wir Bildschirme oder zumindest Interfaces, television also, irgendwann als archaisch ansehen werden. Durch die vorgeblich schiefe Metapher enthebt Gibson sein Bild und damit das ganze Szenario außerdem geschickt jeden Anspruchs auf sogenannten „Realismus“. Der Maßstab ist vielmehr Authentizität!
Gibson beschreibt die Zukunft, in einer speziellen Sprache, die sich nicht vor Obskurität fürchtet, wenn dadurch ein passendes Bild in der Fantasie entstehen kann. Der erste Satz ist stilistisch meisterhaft. Der Leser reibt sich an der Sprache, den Leerstellen, die sich nur schwer durch Bekanntes füllen lassen. Man erschließt sich den Satz eher gefühlsmäßig, als dass man ihn wirklich verstanden hätte. So sind die Neuromancer-Bücher. Die Zukunft ist sehr wie die Gegenwart, nur noch schlimmer.
Deshalb wird Gibsons erster Satz Bestand haben. In seiner scheinbaren Einfachheit und Gegenwärtigkeit und gerade wegen der auf den ersten Blick vielleicht fehlerhaften Metapher ist er stets Gegenwart und Zukunft zugleich. Entsprechend steht man etwas ratlos davor.
Auf das Thema bin ich durch einen Artikel von Alexis Radcliff gekommen. Sie hat Wired for Story besprochen, ein Buch mit Schreibtipps von Lisa Cron, wahrscheinlich ganz gut. Die 7 wissenschaftlichen Tipps, die Radcliff daraus vorstellt, sind jedenfalls gar nicht verkehrt. William Gibson macht allerdings, es überrascht eigentlich kaum, fast alles verkehrt.
Gleich beim ersten Tipp dachte ich stark: Aber GIBSON! NEUROMANCER!
Try to answer these questions in the very first sentence or paragraph to kick things off correctly:
-
Whose story is it?
-
What’s happening here?
-
What’s at stake?
Nope, nope, nope. Nix davon trifft auf den ersten Satz von Neuromancer zu. Für jemanden wie mich, der erste Sätze ernst nimmt und für den erste Sätze fast eine eigene Kunstform darstellen, für deren Würdigung es Geschichten oder Romane bedarf, klingt das aber auch nach einem furchtbar langweiligen Tipp, durch den man funktionierende erste Sätze produziert, aber niemals das komplette Potenzial eines ersten Satzes erschließen wird.
Aber der Tipp ist schon gut. Große Sprachkünstler werden wohl kaum aufgrund eines Ratgebers ihrer Expressivität beraubt. Wer die Tipps verstanden hat, kann sie aus einer informierten Perspektive missachten, wenn es geraten ist.
Jetzt seid ihr dran: Ich kann nicht alles gelesen haben. Was ist eurer Meinung nach der beste erste Satz der Welt? Ich würde gern mehr über erste Sätze lesen und diskutieren. Hallo Internet, stimmen wir ab! Gibson hat Vorsprung!
Ich werde es mir notieren und hey dann haben wir ja etwas tu tauschen. Ich lese Gibson und du Austen :D By the way, ich habe keine Ahnung ob du Stöckchen magst, aber dennoch hier ist noch eines: https://wordbuzzz.wordpress.com/2015/08/04/fragen-ueber-fragen/#more-1592
Ich hoffe du machst mit. Würde mich freuen
Jo, ich weiß, dass ich die letzten nicht beantwortet habe, aber eigentlich immer gern. Hoffentlich komme ich diesmal dazu. Dank dir! Austen ist gebongt!
Ich muss gestehen, ich habe vorher noch nie von diesem Buch gehört. Doch das wird sich hoffentlich bald ändern :) In Sachen Lieblingsanfangsatz musste ich eine Weile nachdenken, aber ich bin zu dem Schluss gekommen bei dem zu bleiben, der mir als erstes eingefallen ist.
„It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune, must be in want of a wife.“ aus Pride and Prejudice
und das zweite Zitat wäre in Gedicht, das noch nicht einmal der Anfangssatz ist. Ich es aber zu genial finde, um es hier nicht zu teilen :D
In tiefen, kalten, hohlen Räumen
Wo Schatten sich mit Schatten paaren
Wo alte Bücher Träume träumen
Von Zeiten als sie Bäume waren
Wo Kohle Diamant gebiert
Man weder Licht noch Gnade kennt
Dort ist’s, wo jener Geist regiert
Den man den Schattenkönig nennt.
Ich liebe die Geschichten von Walter Moers.
Pride & Prejudice… auch gut. Gibt Lesern ebenfalls gleich einen guten Eindruck, was noch kommen wird.
Neuromancer bzw. die Sprawl-Trilogie ist auf jeden Fall empfehlenswert, wenn man Cyberpunk mag!
Moers muss ich irgendwann mal lesen. Hab ich irgendwie noch nie gemacht.
Der beste erste Satz der Welt? Einfach:
„Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste und der Revolvermann folgte ihm.“
Stephen King – Schwarz. Er findet selber, dass es sein bester erster Satz ist und damit hat er Recht! Wäre das nicht so, hätte das Ende des gesamten „Dunklen Turm“-Zyklus einen völlig anderen Verlauf genommen, aber das wäre zu viel gespoilert…
DEN mag ich auch sehr gern, aber ich hab die Reihe nie ganz gelesen.
Das ist ein wirklich toller erster Satz, das stimmt! Der erste Satz der mir als grandios in Erinnerung blieb, und den ich immer und immer wieder lesen kann und mag: “Mr. and Mrs. Dursley of number four, Privet Drive, were proud to say that they were perfectly normal, thank you very much.”
Harry Potter fand ich auch von Beginn an sprachlich sehr einnehmend. Der Satz macht letztlich völlig absichtlich wirklich alles verkehrt. ^^