Ich lese grad Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie des NSU. Ziemlich trocken, muss ich ehrlicherweise sagen. Mich interessiert das Thema sehr, ich kenne aus meiner Schulzeit in Erfurt selbst noch Anti-Antifa-Aufkleber und weiß, wie militant die Nazis bei uns in der Gegend drauf waren. Aber hätte ich vorher mal nachgeschaut und gesehen, dass das Buch über 800 Seiten hat – ich hätte es wahrscheinlich erstmal nicht gelesen.
Sei’s drum, ich bin jetzt etwa zu drei Vierteln durch und auch wenn das Buch sich immer wieder sehr trocken, ja redundant, liest, so muss man es doch lesen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie unfähig sich deutsche Behörden und Geheimdienste im Fall Nationalsozialistischer Untergrund anstellten. Weiter noch: Wieviel in diesem Zusammenhang schlicht unverständlich ist oder einem sogar dubios vorkommen muss und was für ein gewichtiger Anteil des Wissens, das wir überhaupt über NSU und die Unterstützerszene haben, Antifa-Aktivitäten zu verdanken ist.
Jedenfalls wurde in dem Buch auch ein interessantes Video erwähnt. Jugendlicher Extremismus mitten in Deutschland – Szenen aus Thüringen von Reyk Seela (2000). Reyk Seela ist CDU-Abgeordneter. Das Video wurde in Auftrag gegeben von der Heron Verlagsgesellschaft. Heute weiß man, dass dahinter das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz steckte. Als Geschäftsführer agierte unter dem Decknamen Stephan Seeberg niemand geringeres als Helmut Roewer, damals Präsident des Landesamtes.
Schöne Anekdote am Rande, zitiert nach Wikipedia: „1994 wurde Roewer von Innenminister Franz Schuster zum Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes bestellt. Die Übergabe der Ernennungsurkunde erfolgte unter nicht mehr rekonstruierbaren Umständen in einem Erfurter Gasthaus, wo sie dem zu diesem Zeitpunkt betrunkenen Roewer in die Tasche gesteckt wurde, woran er sich später nur mehr schemenhaft erinnern konnte.“ Damit ihr gleich eine Vorstellung habt.
Roewer wollte den Film angeblich nutzen, um an die rechtsradikale Szene ran zu kommen und Bild- und Tonaufnahmen zu erstellen. Dabei war die Szene zu dieser Zeit nur so von V-Männern durchsetzt. Nahezu jeder halbwegs wichtige Nazi in Thüringen spitzelte für irgendeinen Dienst und berichtete, mehr oder weniger wahrheitsgemäß.
Herausgekommen ist dabei jedenfalls ein Zeitdokument, das deutlich zeigt, wie sehr die Gefahr von rechts damals unterschätzt und relativiert wurde und wie scheinheilig eine Bedrohung durch linke Antifaschisten herbei fantasiert wurde.
Das Märchen von den Szenen, die ohne einander nicht existieren könnten und sich gegenseitig anstacheln (Extremismustheorie, lechts und rinks), wird als Wahrheit verkauft. Gewalttätige Nazis vom Thüringer Heimatschutz, aus dem auch die Rechtsterroristen des NSU hervor gingen, dürfen unkommentiert Gewaltlosigkeit vorlügen und von angeblichen linken Gewalttaten berichten. Es ist schwer erträglich. Aber irgendwie doch wichtig. Deswegen ist es erfreulich, dass jeder von euch sich das Video online angucken und sich selbst ein Bild machen kann.
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